Es war bereits der zweite Überfall auf das deutsche Segler-Paar – aber dieses Mal haben weder Jürgen Kantner noch Sabine Merz überlebt. Nachdem die 59-Jährige bereits im November auf ihrem Boot "Rockall" erschossen wurde, tötete die Islamistengruppe Abu Sayyaf am Sonntag auch ihren 70 Jahre alten Lebensgefährten. Die Terroristen hatten umgerechnet knapp 570.000 Euro Lösegeld gefordert. Ihr Ultimatum lief am Sonntag um acht Uhr MEZ ab.
Das Auswärtige Amt bestätigte am Montagnachmittag die Ermordung des Entführten und verurteilte sie als grausamen Terrorakt. "Es gibt nun keinen vernünftigen Zweifel mehr, dass der auf den Philippinen entführte Deutsche nicht mehr am Leben ist", sagte ein Sprecher. "Wir sind zutiefst erschüttert über das unmenschliche und grausame Vorgehen der Täter."
Jürgen Kantner und Sabine Merz waren im Jahr 2008 schon einmal 52 Tage in der Gewalt somalischer Piraten gewesen. Angeblich flossen damals rund 445.000 Euro Lösegeld. Dem stern gaben die beiden nach ihrer Rettung ein Interview, in dem sie ihre Geiselhaft und die Motive für die Weltumseglung schilderten.
stern: Frau Merz, Herr Kantner, Sie wurden von Piraten gekapert, in den Busch verschleppt und 50 Tage lang als Geiseln gehalten. Wussten Sie nicht, dass der Golf von Aden die gefährlichste Segelregion der Welt ist?
MERZ: Nein. Ich hab gewusst, dass Somalia ein gefährliches Land ist und dass es dort Bürgerkrieg gibt.
Viele in Deutschland sagten: "Das war idiotisch." Da haben sich zwei Freizeitkapitäne wissentlich in Lebensgefahr begeben.
KANTNER: Wieso wissentlich? Die Leute glauben, dass wir vor Somalia segelten, weil das in einigen Zeitungen stand. Aber das war falsch.
Die gesamte Region gilt als so riskant, dass Bundeswehreinsätze gegen Piraten im Rahmen einer EU-Mission debattiert werden.
KANTNER: Seit Jahren fährt die Bundeswehr da unten rum, hat kein Mandat und darf nicht schießen. Darüber machten sich sogar die Piraten lustig!
Sie sind mit Ihrer Yacht "Rockall" allein durch den Golf von Aden gesegelt. Experten raten, im Konvoi zu fahren.
KANTNER: Davon halte ich nichts. Ein Schiff hat allein viel mehr Chancen, unentdeckt zu bleiben. Die anderen helfen dir ohnehin nicht, wenn es einen Angriff gibt.
Wie lief denn der Überfall ab?
MERZ: Es waren neun Mann, sie kamen mit zwei Booten, waren schwer bewaffnet.
KANTNER: Alles ging blitzschnell - und schien doch zunächst harmlos. Die waren ausgehungert, wollten was zu essen. Sie sagten, sie würden auf einen Frachter warten. Am nächsten Tag war alles plötzlich anders, da drohten sie, mich erst zu erschießen, warfen Sabine ins Beiboot, legten mir dann eine Schlinge um den Hals.
MERZ: Wir hatten eine Höllenangst.
KANTNER: Ich nicht. Vor dem Sterben hatte ich nie Angst.
Sahen Sie denn in dem Moment ein, dass es ein Fehler war, in diesen Gewässern zu segeln?
KANTNER: Wissen Sie, Freunde von mir sind vergangenen Monat vor den Kanarischen Inseln von Piraten geschnappt worden. Jetzt wieder Touristen vor Korsika. Wo ist man denn sicher? Nirgends!
MERZ: Dieser Herr im Jemen hatte außerdem gesagt, wir sollten uns nahe an der jemenitischen Küste halten, dann passiert uns nichts.
KANTNER: Ein Privatmann aus Aden. Den kenne ich schon viele Jahre, der ist bestens informiert. Der sagte: "Jürgen, pass auf, es gibt jetzt viele Piraten, die von Somalia kommen." Wir hielten deshalb Abstand von Somalia und segelten vor der jemenitischen Küste. Wenn 1000 Schiffe durchfahren, und drei werden geschnappt, sehe ich keinen Grund, mich verrückt zu machen.
Es waren in diesem Jahr schon 31 Attacken. Die Seeräuberei am Horn von Afrika ist ein Millionengeschäft ...
KANTNER: Aber das heißt doch nicht, dass alles stimmt, was berichtet wird. Viele Segler fühlen sich schon von einem Fischer bedroht, der eine Maschinenpistole neben sich hat. Aber das haben die da unten alle.
Frau Merz, haben Sie mit Jürgen Kantner vor der Reise diskutiert, wo Sie da eigentlich langfahren?
MERZ: Ja, er hat mir erklärt, wie wir segeln. Ich habe ihm vertraut. KANTNER: Ich bin da schon dreimal zuvor durchgesegelt, zuletzt vor fünf Jahren. Ich hatte nie Probleme.
Sie wurden mehrmals mit dem Tode bedroht, einmal scheinexekutiert, Sie beide sind inzwischen mittellos. Und Sie sagen dennoch "Wir haben nichts falsch gemacht"?
KANTNER: Ich kann mir nichts vorwerfen! Der Überfall war ein Unglück, wir waren zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort. Langsam komme ich mir hier vor wie beim Verhör des BKA, als hätte ich selbst Schuld.
Immerhin sind Sie ja ein erfahrener Segler.
KANTNER: Eben. Mit 28 habe ich mein erstes Boot gekauft. Insgesamt lebe ich seit über 30 Jahren auf dem Wasser, habe auf Schiffen gearbeitet, Bootsüberführungen gemacht, das wird gut bezahlt. Ich habe 14 Jahre mit meiner Familie auf dem Segelboot gelebt. Meine beiden Kinder sind dort groß geworden.
Frau Merz, was hat Sie an Herrn Kantner fasziniert, als Sie ihn vor vier Jahren kennenlernten?
MERZ: Die Ruhe, die er ausstrahlte, er hatte immer Zeit für mich. Und er ist ein grundehrlicher Mann. Außerdem hatte ich bei Jürgen das Gefühl: Er kann mich beschützen. Die Entscheidung, meinen Mann zu verlassen, war schon gefallen, bevor ich Jürgen kennenlernte.
Es war also nicht das Muster: Frustrierte Hausfrau aus der schwäbischen Provinz sucht Abenteurer?
KANTNER: Sie hat nicht nach vier Wochen gesagt: "Das ist ein geiler Typ, mit dem fahr ich los." Wir haben erst mal eine Zeit lang zusammengelebt, um rauszufinden, ob wir zueinanderpassen.
Es war Ihr erster Segeltörn, Frau Merz. Sie verkauften alles, Sie kündigten Ihren Job, und dann ging's los?
KANTNER: Wir fuhren im Sommer 2007 von Frankreich durchs Mittelmeer, überwinterten auf Kreta, dann weiter durch den Suezkanal. Im Roten Meer haben wir uns dann vier Monate Zeit gelassen. Von Riff zu Riff. Man stoppt mal da, mal da. Wir haben Lobster gefangen ...
MERZ: Wir sind morgens mit der Sonne aufgestanden und ins Bett, wenn sie unterging. Ich trug den ganzen Tag Bikini oder gar nichts.
KANTNER: Ein Leben wie im Paradies.
Das endete am Tag, als die Piraten an Bord kamen.
MERZ: Am 21. Juni. So steht es in meinem Tagebuch: "Wir haben gerade das große Vorsegel repariert, als wir Motoren hörten. Es preschten zwei Boote mit Außenbordern auf uns zu. Als sie nur noch wenige Meter entfernt waren, wurde geschossen. Männer sprangen zu uns an Bord und schossen wieder."
KANTNER: Ich hab sie zuerst gehört. Ich sagte zu Sabine, das sind Piraten, geh runter und zieh dir was an. Ich ging unter Deck, um meine Schrotflinte zu laden. Da sind sie schon an Bord gesprungen. Da hab ich das Gewehr versteckt.
Wie sahen die Piraten aus?
KANTNER: Alles Schwarze. Einer sprach etwas Englisch. Alles deutete darauf hin, dass sie auf größere Beute aus waren. Die Stimmung schlug erst am nächsten Tag um. Ich sollte rüberfahren nach Somalia. Ich sagte: Motor ist kaputt.
Warum haben Sie sich geweigert?
KANTNER: Wir waren auf einer Schifffahrtsstraße, da fährt ja auch unsere Bundeswehr spazieren. Ich hoffte wirklich, dass die Piraten ein Frachtschiff sehen. Wir sind 24 Stunden auf der Stelle hin und her getrieben, da wurden die nervös. Erst wollten sie mich erschießen ...
MERZ: Ja, sie zielten auf ihn, und dann habe ich mich vor ihn gestellt und gesagt: Dann erschießt mich auch.
KANTNER: Dann haben sie Sabine weggeschafft, ins Beiboot. Mir drohten sie: "Wenn du nicht freiwillig gehst, hängen wir dich auf." Sie glaubten mir nicht, dass der Motor kaputt ist, sie gingen in den Maschinenraum und versuchten, ihn anzumachen. Der Motor hatte zwei Zündschlösser, aber nur eins war verkabelt. Den Schlüssel der funktionierenden Zündung hatte ich versteckt, den anderen dringelassen. Die haben probiert, aber nix ging. Ich sagte, siehst du, der Motor ist kaputt.
Da haben Sie cool reagiert.
KANTNER: Ich hab versucht, sie in meinem Sinn zu dirigieren, hab mich mit ihnen unterhalten. Aber in der ersten Nacht habe ich versagt, weil ich nicht Manns genug war, das auszuführen, was ich vorhatte.
Was hatten Sie denn vor?
KANTNER: Ich wollte sie erschlagen.
KANTNER: Ja. Es wurde Nacht, die Piraten waren davor schon drei Tage auf See gewesen, die waren hundemüde. Nach dem Essen ist einer nach dem anderen eingeschlafen. Da sagte ich zu Sabine, hör zu, die können wir alle erschlagen. Ich hab das Metzgerbeil rausgesucht, das sollte sie nehmen. Ich hatte ein Eisenrohr. Ich sagte, du fängst bei dem an. Mach kein Geräusch. Geh gleich zum Nächsten, fang nicht an zu weinen. Doch dann habe ich mir vorgestellt, welches Geräusch es gibt, wenn der Schädel bricht, und hab mich gefragt, ob dann der Nächste wach wird. Das ging mir in der Geiselhaft noch oft nach. Das habe ich mir nie verziehen.
Tags darauf wurden Sie an die somalische Küste geschleppt. War da schon von Lösegeld die Rede?
MERZ: Immer wieder versuchten wir zu erklären, wir haben nichts, bis auf den Barbetrag an Bord, 10.000 Euro. Wir erklärten, dass unsere Familien auch nichts haben. Aber sie meinten, die deutsche Regierung solle zahlen.
KANTNER: Sie haben uns elf, zwölf Stunden geschleppt. Ein kleiner Mann kam, er hatte eine rote Jacke an. Wir nannten ihn fortan Rotkäppchen. Wir sollten mitkommen. Wenn unser Staat bezahlt hat, dürften wir wieder an Bord.
MERZ: Er bringt uns jetzt ins Government Hotel, sagte er. Das sei kühl und sauber.
KANTNER: Tatsächlich landeten wir in einem Ziegenstall auf etwa 1500 Meter Höhe. Dort blieben wir 16 Tage lang.
Wussten Sie in etwa, wo Sie waren?
KANTNER: In den Bergen von Puntland. Ich hatte heimlich mein GPS eingesteckt.
Sie hatten ein Navigationsgerät dabei?
KANTNER : Ich hab's mir auf dem Schiff in die Unterhose geschoben. Vorne rein.
Und Sie, Frau Merz, führten Tagebuch. Das war doch auch riskant?
MERZ: Ich habe das Englischbuch vor mich hingestellt, als würde ich lernen und die Vokabeln aufschreiben.
Wer hat sie bewacht, die neun Mann vom Boot?
KANTNER: Die Gruppe bestand insgesamt aus rund 25 Räubern. Später kamen immer mehr dazu, am Ende waren es 150.
Wussten die Leute in der Gegend von Ihrer Entführung?
KANTNER: Ja, aber die wollten nichts damit zu tun haben. In unserem Ziegenstall waren offenbar schon öfter Geiseln gewesen.
MERZ: Da waren Striche an der Wand, Namen reingekratzt. Und im zweiten Raum des Stalls wurde einige Tage später ein Italiener festgehalten.
KANTNER: Wir haben schweres Atmen und Stöhnen gehört. Und ich kann etwas Italienisch. Er hieß Jeremy, flehte um sein Leben und bot 500.000 Dollar für seine Freilassung.
Hatten Sie Kontakt zu dem Mann?
KANTNER: Ich habe versucht, ihn anzusprechen, als ich auf die Toilette ging. Er hat aber nie geantwortet, und die Tür war immer geschlossen. Zwei oder drei Tage später fielen in der Nacht drei Schüsse.
Wurden auch Sie wieder mit dem Tod bedroht?
MERZ: Die ersten drei Tage nicht, aber draußen vor der Tür gingen die Streitereien unter den Räubern weiter. Die jungen wollten uns offenbar töten, die älteren unser Geld.
KANTNER: Sie fragten uns jeden Tag, wann das Geld aus Deutschland kommt, von unseren Familien. Ich sagte, sie könnten doch anrufen, sie haben auch zweimal meine Mutter angerufen. Sie ist schon älter, kann kein Englisch und hat nicht verstanden, was die wollen. Sie hat aufgelegt.
MERZ: Dann gaben sie mir das Telefon, ich versuchte dreimal, meine Tochter zu erreichen. Als das nicht klappte, wurden die Entführer wieder aggressiver und drohten, uns zu erschießen. Jürgen beruhigte sie und sagte, sie sollen in Dschibuti bei der deutschen Botschaft anrufen.
Sie mussten den Entführern sagen, wen sie anrufen sollen?
KANTNER: So ist es. Ich hab ihnen erklärt: Ihr müsst unsere Namen und Passnummern nennen. Dann könnt ihr eure Forderungen stellen.
Die waren also ziemlich ahnungslos?
KANTNER: Völlig chaotisch waren die.
Wer hat schließlich den Kontakt zu den deutschen Behörden hergestellt?
KANTNER: Die hatten einen Mittelsmann, er nannte sich Ali. Er gehörte nicht zu den Räubern. Er hat angeblich 20 Jahre in den USA gelebt. Ali hat angerufen und mir dann das Telefon gegeben. Es war wahrscheinlich das Außenministerium in Berlin. Wir haben dort mit zwei Leuten gesprochen.
Was haben Sie denen erzählt?
KANTNER: Ich wollte ihnen berichten, wie viele Entführer es sind, welche Waffen sie haben und wo wir festgehalten werden. Die hatten gar kein Interesse daran. Es hieß immer nur: Bleiben Sie ruhig, wir kümmern uns darum. Aus Wut und Verzweiflung habe ich das GPS in einen Busch geworfen.
Wurden die Entführer ungeduldig, als sich die Verhandlungen hinzogen?
KANTNER: Wir waren einmal zum Telefonieren auf den Hügel gestiegen. Da haben sie mich weggeführt von Sabine. Dann hörte ich zwei Schüsse. Einer der Entführer sagte: "Wir haben Sabine gekillt. Jetzt bist du dran." Ich musste mich vor einen Felsen stellen. Vor mir stand einer, vermummt, das Gewehr im Anschlag. Ein anderer wollte mir die Augen verbinden. Ich lehnte das ab. Ich schaute auf die Mündung, wartete, dass was rauskam aus dem Löchelchen. Ich habe nur ein Klicken gehört. Dann hieß es "Mitkommen!", einer sagte: "Da liegt Sabine, willst du sie sehen?" Ich sagte Ja. Er sagte: "Nein, das sieht so schrecklich aus." Die wollten uns einfach einschüchtern.
Wie lange waren Sie im Ziegenstall?
MERZ: Bis zum 9. Juli, dann wechselten wir das Versteck. Wir marschierten acht Stunden. Es war sehr anstrengend, nachdem wir 16 Tage fast nur gelegen hatten, mit wenig Nahrung. Manchmal bekamen wir den ganzen Tag nur ein Brot oder eine Kartoffel. Wir hatten Badeschlappen an. An einer dicht bewachsenen Stelle machten sie uns ein Lager. Ich war völlig entkräftet.
KANTNER: Ali sagte uns, dass sich Soldaten aus Somaliland und Puntland wegen uns bekriegen. Wir haben gehofft, dass es deutsche Spezialkräfte sind. Aber über deutsche Soldaten haben die nur gelacht.
KANTNER: Ich fragte sie einmal, was macht ihr, wenn unsere Soldaten kommen? Da haben sie gelacht. Die deutsche Regierung sei "softie", sagten sie. Die Franzosen dagegen, die kämen mit Kampfhubschraubern.
Wie lange waren Sie in den Bergen?
KANTNER: Vier Tage lang haben wir auf Baumrinde geschlafen.
MERZ: Es ging mir dort sehr schlecht. Erst konnte ich tagelang nicht auf die Toilette, dann hatte ich furchtbaren Durchfall.
KANTNER: Wir lagen völlig apathisch herum. Wir haben uns nur an der Hand gehalten.
Wer war der Stärkere von Ihnen?
KANTNER: Es wechselte. Ich hatte auch Tiefs und habe hemmungslos geweint. Sie hat mich dann getröstet.
Dann wurden Sie ein zweites Mal verlegt?
MERZ: Ja, nach insgesamt dreieinhalb Wochen in Haft. Mit einem Jeep wurden wir zwei Kilometer in die Berge gefahren.
KANTNER: Die folgenden 26 Tage haben wir dort unter einem dichten Busch zugebracht. In diesem höhlenartigen Lager, drei mal drei Meter, waren wir zu zweit, die Bewacher lagen um den Busch herum.
Was waren die schlimmsten Situationen?
MERZ: Neben der Scheinerschießung die versuchte Vergewaltigung. Ich war auf der Toilette und bin dann zu unserem Lager zurückgelaufen. Ein junger Räuber stand plötzlich vor mir und hat seine Hose runtergelassen. Einer der Älteren hat ihn aber weggezerrt. Ein paar Minuten später kam Rotkäppchen und sagte, wenn das Geld nicht in fünf Tagen da sei, würde ich von allen Männern vergewaltigt und Jürgen müsse zuschauen. Als ich das nächste Mal auf der Toilette war, nahm ich einen spitzen Stein mit und versteckte ihn hinter meinem Rucksack. Ich habe Jürgen gesagt: Wenn einer mich anfasst, dann schlage ich ihm den Schädel ein. In mein Tagebuch schrieb ich: "30. 7. Wir haben die Hoffnung auf eine schnelle Rettung jetzt aufgegeben. Ebenso haben wir den Glauben an Deutschland verloren. Wir planen jetzt unsere Rettung selbst."
KANTNER: Ja. Wir wollten nach Boosaaso. Das sind 120 Kilometer. Ich habe mit zehn bis zwölf Tagen gerechnet.
Wie wollten Sie aus dem Lager entkommen?
KANTNER: Vor unserem Ausgang lagen vier bis fünf Soldaten. Nachts war es stockdunkel, man konnte an denen vorbeischleichen, ohne dass sie etwas merkten. Ich habe das ausgetestet. Ich bin dreimal zu einem rund 50 Meter entfernten Busch gegangen, unserer Toilette. Ich habe mich dort hingesetzt und gewartet, ob mir jemand folgt. Keiner kam. Wir wollten am 14. August flüchten. Bis dahin sollte Sabine viel essen, um wieder zu Kräften zu kommen.
Ihr Navigationsgerät war doch weg. Hätten Sie den Weg überhaupt finden können?
KANTNER: Wir wollten uns an den Sternen und der Sonne orientieren, wie auf See. Wir hatten heimlich Essen abgezwackt. Reis und Spaghetti, außerdem zehn Liter Wasser in Plastikflaschen. Das hätte für vier Tage gereicht. Und dann hätten wir uns an Quellen versorgt.
KANTNER: Ja. Plötzlich waren alle Räuber da. Ich wusste, jetzt geht es los.
Erzählen Sie uns von Ihrer Befreiung.
MERZ: Am 8. August fuhren wir mittags in Jeeps und Lkws los. Nach fünf Stunden Fahrt sind wir in ein kleines Dorf gekommen.
KANTNER: Im einzigen Steinhaus saßen rund zehn Leute in einem Kreis. Wir sind nach wenigen Sekunden wieder rausgezerrt und auf Jeeps verfrachtet worden.
MERZ: In dem Moment war mir klar, dass wir frei sind. Denn in den Jeeps saßen Soldaten mit Uniformen.
KANTNER: Wir wurden nach Boosaaso gebracht und lernten dort auch den Präsidenten von Puntland kennen. Ein feiner Mensch, gebildet und sehr besorgt um uns.
Haben Sie ihn gefragt, wer das Lösegeld bezahlt hat?
KANTNER: Es muss die Regierung von Puntland gewesen sein. Der Offizier in dem Jeep hatte erzählt, dass sie das Geld mitgebracht hätten. Ich denke aber, dass die es Deutschland nur vorgestreckt hat.
Wissen Sie, wie viel gezahlt wurde? Es war die Rede von einer Million Dollar.
KANTNER: Das BKA hat uns verboten, darüber zu sprechen.
Wie stellen Sie sich Ihr Leben jetzt vor?
KANTNER: In meinem Alter bekomme ich keine Arbeit mehr. Das ist aussichtslos.
MERZ: Da uns alle Unterlagen gestohlen wurden, dauert es bis Anfang Oktober, bis wir Arbeitslosenhilfe bekommen. Und Jobs bekomme ich vom Arbeitsamt auch keine angeboten.
War die Reise der größte Fehler Ihres Lebens?
MERZ: Nein. Ich wollte nach Asien und mit Jürgen zusammen sein. Ich würde es wieder machen.
KANTNER: Ich auch, sofort. Wenn ich wüsste, wo mein Schiff ist, würde ich wieder nach Somalia fahren. Selbst wenn dort Piraten sind.
Und Sie würden dann wieder Hilfe der Bundesregierung erwarten?
KANTNER: Ich habe keine Hilfe erwartet.
Aber Sie haben sich doch beklagt, Sie hätten während der Geiselhaft den Glauben an Deutschland verloren.
KANTNER: Ich habe nie um Lösegeld gebettelt. Ich wollte nur, dass es vorangeht. Ich habe Sabine schon am Anfang gesagt, dass die Deutschen von mir aus das Lager stürmen und alles niederbomben können. Ohne Rücksicht auf uns.
MERZ: Das sehe ich genauso. Wir wollten, dass diese Leute ausgeschaltet werden, damit nie wieder jemand dieses Leid zugefügt wird. Dann wäre unser Tod wenigstens sinnvoll gewesen.
Bombardieren statt zahlen: Ist das Ihr Rat an die deutsche Regierung?
KANTNER: Ja. Solange die bezahlen, werden die Forderungen immer höher.
War es also ein Fehler, dass für Sie Lösegeld bezahlt wurde?
KANTNER: Ja. Es tut mir zwar leid für diejenigen, die in so einer Situation stecken. Und natürlich bin ich froh, dass ich lebe. Aber erst, wenn kein Lösegeld mehr gezahlt wird, hören die Geiselnahmen auf.
© G+J Medien GmbH